22.12.2010 - Der sprechende Plastikvogel und die Silberquäke

Es ist 06:00 Uhr. Der Wecker wirft gähnend seine blassen Zahlen ohne Gnade durch das dunkle und kalte Schlafzimmer. Er klatscht seine Zahlen gegen den Schrank und die rot gestrichene Tapete. Und er klatscht seine Zahlen gegen meine blasse Stirn. Quäkend tutet ein Riesenalarm aus einem Wecker ohne erkennbare Lautsprecher und kippt ohne Unterlass meine Ohren mit m´s und ä´s und t´s voll.

Määät määät määät määät määät määät määät...

Ich versuche, die Lage des "Alarm-OFF" Knopfes mit geschlossenen Augen abzuschätzen, um dem kleinen Ohrenvergewaltiger zu eliminieren.

Määät määät määät määät määät määät määät määät määät...

Ich gebe alles und aktiviere die bereits zuckende Muskelgruppe meines rechten Augenlides.
Da steht das kleine, miese, doofe, hässlich quäkende Ding.
Ich versuche den Sleep-Knopf zu aktivieren, und mir damit 5 Minuten Zusatzruhe in der Aufwachphase zu gönnen.

Määät määät määät määät määät määät määät määät määät määät...

Das Achteuroscheißding von Kaufhof reagiert nicht. Ich tippe auf dem Sensorknopf herum wie ein afrikanischer Klopfkäfer während der Partnervermittlung.

Määät määät määät määät määät määät määät määät määät määät määät...

Langsam erkämpft das Kaufhof-Ding meine ungeteilte Aufmerksamkeit. Ich haue mit geschlossener Faust auf die silberne Quäkenhülle und treffe alle Knöpfe auf einmal. Mit dem Erfolg, das mir nun die Zeit in Kambodscha und Toronto gleichzeitig angezeigt wird, agiert das Ding weiter.

Määät määät määät määät määät määät määät määät määät määät määät...

Jetzt reicht es! Das Maß ist voll! Ich soll nicht schlagen. Schlagen ist schlecht. Man kann und sollte alles in Ruhe und mit Worten regeln, sagte mir meine Mutter immer und immer wieder. Aber nicht mit mir! Nicht jetzt! Ich werde nicht mit meinem Wecker kommunizieren und versuchen, ihn mit sachlichen Argumenten zu überzeugen.
Ich schlage das Silberding hart. Links, rechts, Aufwärtshaken und zum Abschluss ein Seitwärtshammer, der die Silberquäke endlich verstummen lässt.

Das Achteuroscheißding von Kaufhof.

Ich schlurfe ungelenk ins Wohnzimmer und lasse mich auf meinem schäbigen, aber gemütlichen Sofa nieder. Erst jetzt merke ich, dass auch mein Magen Alarm meldet. Er dreht sich wie ein Kettenkarussell um Zwölffingerdarm und Milz. Mir geht es nicht gut. Ob es an einem Virus liegt oder gar an dem gestrig gekauften Möwenteppich, welcher sich langflorig und mollig unter meinen nackigen Füßen ausbreitet, vermag ich nicht zu beurteilen. Auch mein Kopf schmerzt, als wäre mir letzte Nacht ein Gullydeckel aus der Denkerbirne gewachsen. Nichts geht mehr. Männer können verdammt gut leiden und ich gebe heute die Creme de la Creme dieser Spezies ab.
Der Magen stellt sich kurzzeitig und selbstständig auf die Grundfunktion Wiederkäuertechnik um und ich überlege, dem Gefühl aus dem Untergrund nachzugeben. Nichts da! Das Essen von gestern Abend war teuer und bleibt, wo es ist. Basta Monsieur Magen!
Ich entschließe, etwas später auf der Arbeit zu erscheinen und tätige einen kurzen "Sorget Euch nicht - Anruf" bei der Sekretärin. In der Arzneimittelschublade gleich unter der Strumpfschublade erspähe ich Horden von bunten Tabletten und Pillen gegen alles und irgendwas. Mit einem schwarzen Tee (Earl Grey) wandern einige der kleinen Arzneiwunder heiß die Magenwände herunter und entfalten ihre Wirkung...
...09:00 Uhr. Ich wache zum zweiten Mal an diesem Tag auf. Die Sonne streichelt über mein Gesicht und ich schaue durchs doppelt verglaste Holzfenster in einen gewaltigen, blauen Winterhimmel. Alle Organe und Denkareale funktionieren in ausreichender Form, um den Tag nun erfolgreich in Empfang zu nehmen.
Zähnchen putzen, Magen mit Frühstückstee begießen und ab in die Stiefel.
Nebenbei informiert mich das Internet unter www.bahn.de über die Pünktlichkeit aller S-Bahnen Richtung Hannover.
Hallo du herrlicher Tag! Ich stapfe vergnügt durch den Schnee wie damals als kleiner Bub im Vorschulalter. Die S-Bahn um 09:43 nehme ich mir als Ziel und die verschneite Landschaft zieht traumhaft an mir vorbei. Eine winterliche Ruhe liegt über den verschneiten Feldern und Dächern - wie unter dicker Watte. Ich zücke meine Kamera, welche ich immer am Mann habe und betätige, süchtig nach tollen Bildern, den frostig kalten Auslöser. Der Schnee lässt meinen Wohnort schöner erscheinen, als er in Wirklichkeit ist.

 Winterlandschaft zwischen Wohnstätte und Bahnhof.
So darf mich der Tag jeden Morgen empfangen!

Auf Bahnsteig 2 ist es böig und das Gesicht spannt sich vor Kälte...
Schneekristallwolken formen sich durch meinen Atem und schweben vor mir weg.
Es ist 09:44 Uhr und leider kein Zug zu sehen. Die Kälte kriecht mir klamm die Beine und Arme hoch.
10:00 Uhr. Immer noch keine rote S-Bahn im Kommen. Außer mir treten zwanzig weitere Bahnkunden den Schnee auf dem Steig nieder.
10:23 Uhr und die Gedanken vereisen. Sie schieben sich bei minus zwölf Grad Celsius langsam durch die Nervenkanäle und bleiben vereinzelt im gefrorenen Synopsen-Geäst hängen. Ich bin mir nicht mal mehr sicher, ob der rote Zug bereits vor mir gehalten hat oder nicht. Wie hypnotisiert stehe ich hier. Ein Blick über den Bahnsteig bestätigt mir, dass die anderen Reisenden noch da sind und weiterhin den Bahnsteig befluten. Wie eine Rentierherde im Polargebiet atmen sie ganze Wellen von Nebelschwaden aus, welche unkontrolliert über die Wartezone wabern.
10:50 Uhr und mir fällt auf, dass seit gut einer Stunde nicht ein einziger Personenzug den Bahnhof passiert hat. Weder in der einen, noch in der anderen Richtung. Lediglich zwei Güterzüge donnern aus Richtung Seelze kommend an den Wartenden - und sollte sich die Wartezeit verlängern - an den bald Sterbenden vorbei.

 Güterzug, gestartet in Seelze mit Baureihe 145 033. 
Mit 4500 PS heißt es "Volle Kraft voraus!"
 
Meine Laufspur zieht sich allmählich wie ein tiefer Schützengraben auf dem Bahnsteig entlang. Alle Wartenden und Sterbenden haben sich solch einen Laufgraben geschaffen. Sie bessern voller Bauherrenstolz die Stellen mit dem Schuh aus, wo nachrutschender Schnee die Konstruktion zerstört hat. Mancher Weg erinnert an stupide Autobahnspuren. Andere Laufgräben sehen aus wie Bauwerke von flüchtenden Brontosauriern. Total verwirrte Bahnkunden kreuzen die Laufgräben anderer. Das geht nun gar nicht! Dieser Umstand wird mit mürrischen Grimassen und kaum hörbaren Warn-Grunzgeräuschen der "Ich war zuerst hier - Bauherren" quittiert.
Nach mehr als eineinhalb Stunden Bauen, Konstruieren, Warngrunzen und Kältetod ausweichen erscheint ein roter Fleck am entfernten Horizont. Die S-Bahn Richtung Hannover kommt! Ungläubig staunen alle Reisenden der S-Bahn entgegen. Noch ungläubiger staunen wir alle als wir bemerken, dass die Beförderungsgurke auf dem falschen Bahnsteig einläuft. Achtzig Füße, zwanzig Koffer mit mittlerweile vierzig mürrisch festgefrorenen Gesichtern poltern die vereiste Treppen von Gleis 2 herunter und am anderen Ende des Tunnels die Treppe zum Gleis 1 wieder hoch. Die Karawane der Tapferen erreicht aus meiner Sicht den Zug in Gänze lebend. Keine Ahnung, wie wir das alle geschafft haben. Türen zu und Abfahrt! Auf geht’s zum letzten Tag Arbeit in diesem Jahr! Der Urlaub liegt nun so dicht vor mir wie eine Lamaherde im Streichelzoo.

Meine S-Bahn... Für Viele Hoffnung und Trost in einem!

16:00 Uhr. Das Leben hat mich nach meiner Arbeit wieder. Der Befehl lautet nun: "Urlaub genießen und Weihnachtsvorbereitungen treffen!" Zwei Stunden später stehe ich mit einhundertvierzig Weihnachtsbaumkugeln, drei Glitzervögeln, fünfzehn Packungen Prachtlametta in Silber, zwei Lichterketten mit einhundertzwanzig Lichtern und einer Baumspitze vor meinem zweieinhalb Meter hohen Weihnachtsbaum.
Die Accessoires warten auf ihre Präsentation und ich beginne mit der jährlichen Schmück-Zelebrierung.
Einem alten Brauch zufolge - den ich erfunden habe und immer wieder akribisch perfektioniert und verfeinert habe - muss das Aufhängen jeder Baumkugel mit einem Schluck Wein begleitet werden. 
Nach zwei Stunden werden die Kugeln immer bunter. Nach der dritten Stunde fangen die Plastikvögel an, mit mir zu sprechen.

 Der Plastikvogel in der Westkurve des Baumes. 
Kann unter besonderen Haltungs-Bedingungen sprechen!  

Nach der vierten Stunde beende ich das diesjährige Trink-Schmücken mit dem Setzen der Silberspitze. Dieses Jahr falle ich dabei nicht in den Baum. Was für ein erfolgreicher Tag! Ein Blick auf den Gezeitenkompass auf meinem Handgelenk sagt mir, das es Zeit wird, mein Ikea Bett aufzusuchen. Ich finde es nach recht kurzer Suche. Nur noch schnell ein Foto von meinem Baum gemacht und dann… „Gute Nacht!“

 ...mein ganzer Stolz der nächsten Tage.
Mein Bäumchen 2010/2011

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